Besucher*innen-Forschung als Baustein zum Design für Alle

Besucher*innen-Forschung hat zur Folge, dass die eigene Arbeit kritisch hinterfragt werden muss: Wessen Perspektiven finden in unserer Ausstellung und den sonstigen Angeboten bisher Berücksichtigung? Sind es die der Wissenschaft, der pädagogischen Fachdebatten oder unsere eigenen? Wessen Perspektive können wir (zusätzlich) einnehmen? 

Im Sommer 2023 wurden Beobachtungen und Befragungen von Besucher*innen unserer Dauerausstellung durchgeführt. Die Auswertung der Ergebnisse zeigt deutlich die Potenziale dieser Forschung.

Besucher*innen-Forschung ist nicht nur kulturpolitisch nötig oder irgendwie en vogue, sondern liefert empirische Daten zu unseren Vermutungen, die lange auf vereinzelten Gästebuch-Auswertungen, punktuelle Umfragen (häufig mit Schulfokus) und “Bauchgefühl” basierten und Einzelbesuchende im Vergleich zu Gruppen tendenziell wenig mitdachten. Doch erst strukturiert erhobene Daten zu Nutzer*innen, ihrer Motivation und Rezeption machen Konzepte und Produkte evaluierbar, kulturelle Teilhabe messbar und Optimierungspotenziale sichtbar. 

Auch die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (GHWK) ist seit einigen Jahren dabei, sich im Bereich der Besucher*innen-Forschung breiter aufzustellen. Aktuelle Beispiele für angewandte Methoden, Projekte bzw. Datenquellen sind der Einsatz von Eye-Tracking-Brillen und physiologische Sensoren zur Untersuchung der Ausstellungsrezeption in 2022 (ein Artikel zur Auswertung der Pilotstudie findet sich im Gedenkstätten-Rundbrief Nr. 112, 12/23, S. 9-20) sowie eine Passant*innen-Befragung zur ersten Annäherung an Nicht- und Nie-Besucher*innen an den Bahnhöfen Nollendorfplatz, Ostkreuz und Wannsee, die Assoziationen und Wünschen sowie Gründen für den Nicht-Besuch von selbigen nachspürte. Diese und auch die über 4.000 seit 2019 geführten Interviews mit Individualbesucher*innen im Rahmen des Kulturmonitoring-Programms (KulMon) oder Online-Fragebögen und Stakeholder- bzw. Fokusgruppen-Gespräche zu Gegenwartsbezügen, Relevanzen, Erwartungen und Motivationen von Jüdinnen und Juden müssen hier zunächst unberücksichtigt bleiben. 

Um sich der Frage anzunähern, ob bzw. wie die Dauerausstellung für ein vielfältiges Publikum funktioniert, geben wir im Folgenden einen ersten Einblick in einen Mixed Methods Ansatz, der im Sommer 2023 begonnen hat: Wie bewerten Besucher*innen unsere Dauerausstellung? Wie nutzen sie die Ausstellung? Welche Texte lesen sie? Wie lange nutzen sie Elemente wie Hörstationen? Und: Lösen diese Interaktion aus?

Beobachtungen: Wie navigieren unsere (Einzel-)Besuchenden durch die Dauerausstellung?

In Ergänzung des bereits erwähnten Eye-Tracking-Projekts in den Räumen 1 bis 4 entschied sich die GHWK für eine Kombination aus Beobachtungen von Nutzer*innen (visitor tracking) und Kurzinterviews zur Wahrnehmung der Ausstellung durch Besucher*innen (Befragungen). In Zusammenarbeit mit dem Sozialwissenschaftler Volker Schönert (Geschäftsführer von VisitorChoice) wurden insgesamt 148 Besucher*innen in ihrem Bewegungsverlauf in den Räumen 5 bis 8 beobachtet. Zusätzlich wurden 111 Ausstellungsbesucher*innen in Form von Kurzinterviews für 5 bis 10 Minuten befragt. 

Mit der Beobachtung sollten Tendenzen und grundlegende Muster der Navigation und Wahrnehmung der Dauerausstellung erfasst werden. Dafür hielten geschulte Beobachter*innen das Bewegungsmuster von Besucher*innen durch die Ausstellungsräume 5 bis 8 in Beobachtungsprotokollen detailliert fest. Die Beobachter*innen hielten dabei stets größtmögliche Distanz und verhielten sich sehr diskret, sodass sich möglichst keine Störungen oder Irritationen für die Besucher*innen ergaben. Erfasst wurden u.a. die Aufenthaltsdauer im jeweiligen Aufenthaltsbereich sowie der Grad an “Interaktion” an den jeweiligen Stationen, das heißt, ob sie miteinander gesprochen oder auf Besonderheiten gezeigt haben. Der Interaktionsgrad ist ein Hinweis darauf, wie engagiert und aktiv Besucher*innen die Ausstellung wahrnehmen, viel Interaktion kann den Effekt haben, Lernen und Verständnis zu fördern. 

Für die Visualisierung der Messergebnisse wurden Informationsgrafiken für jede einzelne Station angefertigt. Bei der Bewertung und Einordnung der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass die meisten Besucher*innen zuvor die Räume 1 bis 4 aufgesucht haben, also bereits größere Mengen an Eindrücken und Informationen aufgenommen haben und möglicherweise eine gewisse Sättigung eingetreten ist. Auf alle beobachteten Besucher*innen (n = 148) bezogen belief sich die Aufenthaltsdauer in den Räumen 5 bis 8 auf ca. 11 Minuten. In Anbetracht der Vielzahl an Ausstellungselementen in Form von Texten, Film- und Hörsequenzen, Dokumenten etc. erscheint diese Angabe im Verhältnis zu den Inhalten sehr gering und legt nahe, dass Besucher*innen zum größten Teil sehr selektiv durch die beobachteten Räume gehen. Das lässt sich auch aus der nachfolgenden Grafik schlussfolgern, die ausschließlich die beobachteten Besucher*innen darstellt, die die entsprechenden Stationen tatsächlich wahrgenommen bzw. genutzt haben. 

In Kreisen werden die absoluten Zahlen der Nutzer*innen angegeben. Die Größe der Kreise soll den Anteil in Bezug auf die 148 beobachteten Besucher*innen besser veranschaulichen. 

Es zeigt sich, dass manche Stationen von vielen Besucher*innen angelaufen werden und diese dort auch für längere Zeit verweilen. Beispielsweise wurde die Station “Die Teilnehmer” insgesamt von 121 der 148 Besucher*innen genutzt; diese verweilten an der Station durchschnittlich 131 Sekunden und damit überdurchschnittlich lang, sie hat also hohe Attraktions- und Haltekraft. 

Andere Stationen bzw. Elemente der Ausstellung werden nur von wenigen Besucher*innen angelaufen, aber zum Teil intensiv rezipiert, z. B. ein kleiner 15“-Screen “Wie wird in anderen europäischen Ländern mit den Verbrechen umgegangen?” (Raum 7): Lediglich 17 Besucher*innen blieben dort stehen. Diese verweilten jedoch durchschnittlich 80 Sekunden lang (geringe Attraktions-, aber hohe Haltekraft). Bei ca. einem Drittel kam es dort außerdem zu einer Interaktion. Wieder andere Stationen werden von wenigen Besucher*innen angelaufen und zudem auch nur für kurze Zeit wahrgenommen. Dazu zählt der inhaltlich genauso umfangreiche, jedoch nicht via Touchfunktion interaktive 42“-Fotoloop-Screen “Umstrittene Vergangenheit” direkt über dem bereits erwähnten 15“-er Bildschirm in Raum 7: 43 Besucher*innen verweilten dort, durchschnittlich jedoch nur 28 Sekunden lang (geringe Attraktions- sowie Haltekraft). Die Hands-On Station zur Fotoanalyse in Raum 7 wiederum steuerten gerade einmal 16 Besucher*innen (11 %) für durchschnittlich aber 72 Sekunden an, wobei das Element bei fast der Hälfte zur Interaktion führte.

Texte 

Bezogen auf die Nutzer*innen der Stationen mit Thementexten (wir nennen sie B-Texte, beispielsweise “Die Akte Endlösung” in Raum 5 oder “Umgang nach 1945” in Raum 7) wurden diese in der Regel gelesen (gerundet 60-90 %). Die in der Texthierarchie nachgeordneten Texte (Objekt- oder C-Texte) wurden weniger intensiv gelesen. Überraschend deutlich fiel jedoch das Ergebnis zu den raumübergreifenden Texten (A-Texte) aus: Diese wurden nur von einer Minderheit gelesen. Im Raum 5 waren zwar noch 56 % der Ausstellungsbesucher*innen zum Lesen des A-Textes bereit. Die nachfolgenden A-Texte wurden dann im Schnitt aber nur noch von 30 und 40 % gelesen. In Raum 8 wurde der kontextualisierende A-Text von den wenigen Nutzer*innen außerdem zum Ende und nicht zu Beginn des Raumaufenthalts angelaufen.

Medien

Die ausstellungsbegleitenden Audioguide-Touren in acht verfügbaren Sprachen bzw. die inklusiven Touren nutzten weniger als 8 % der beobachteten Besucher*innen (sowohl über Audio- bzw. Mediaguide-Leihgeräte als auch über eigene Smartphones). Andere Medienangebote wie Hör- und Medienstationen wurden stark gerundet von 10 bis 25 %, dafür aber im Vergleich mit anderen Elementen tendenziell länger genutzt (durchschnittlich mehr als eine Minute). Aufgrund der Begrenzung der Audiolänge auf weniger als 90 Sekunden ist davon auszugehen, dass die Hörinhalte in vielen Fällen in Gänze aufgenommen wurden. Fazit: Solche Stationen sprechen zwar weniger Besucher*innen an, diese verbringen dafür aber mehr Zeit an diesen. 

Interaktion

Die Interaktion der Besucher*innen untereinander war tendenziell gering. Womöglich werden in den Augen der Besucher*innen Gespräche untereinander als dort unpassend angesehen oder aber die Exponate und Präsentationsweise als nicht anregend genug empfunden. Stille Rezeption wiederum kann zwar einerseits auf intensivere Rezeption hinweisen, andererseits aber auch auf eine kognitive “Abschaltung”, die von Heiner Treinen als “aktives Dösen” bezeichnet wird.1 

Qualitative Befragungen: Was halten (Einzel-)Besuchende von der Dauerausstellung?

“The exhibition is such that there is no shying away from taking responsibility. The honesty around the responsibility of the German people is extremely important. The information is presented in a manner that is easy to follow and understand.”

Einschätzung einer in Israel geborenen Kanadierin

Die Auswertung der Interviews zeigt, dass das Ausstellungsdesign sowohl für Personen mit als auch ohne Vorwissen funktioniert. Häufige Einschätzungen lauten: “modern, nicht überladen” und dass die gebotenen Informationen nicht erschlagend seien. Den Großteil der am Ausstellungsende befragten Personen überzeugte und beeindruckte die Ausstellung sowohl inhaltlich als auch atmosphärisch. Sie wird als sachlich und emotionalisierend zugleich beschrieben. Einige Stimmen bemängelten jedoch beispielsweise eine “zu nüchterne Darstellung der Personen und der Ereignisse; Emotionalität zu gering”. 

Die Interaktivität der Ausstellung wurde von einer Reihe von Interviewten positiv hervorgehoben. Ein kleinerer Teil der Befragten hob jedoch hervor, eher “klassische” Informationsträger wie Texte und Fotografien zu bevorzugen. 

Auch die Atmosphäre in der Ausstellung wurde von den befragten Ausstellungsbesucher*innen überwiegend positiv bewertet. “Angemessen” und “respektvoll” waren häufig verwendete Charakterisierungen. Auch eine emotionale, teilweise beklemmende Wirkung wurde der Ausstellung attestiert. Der Aufbau der Ausstellung wurde als verständlich und nachvollziehbar beschrieben. Einige der befragten Besucher*innen erwähnten jedoch Schwierigkeiten bei der räumlichen Orientierung, zum Beispiel zu Beginn oder bei den Audioguide-Nummern.

Die Verständlichkeit der Ausstellungstexte wurde in den Kurzinterviews von fast allen befragten Besucher*innen bestens bewertet (79 % “sehr gut verständlich” und 19 % “gut verständlich”). 

Gewünscht wurden mehrfach Informationen zur allgemeinen Geschichte des Hauses sowie Gegenwartsbezüge: Rassismus und Diskriminierung sollten thematisiert werden. Angeregt wurden außerdem Übersetzungen von Dokumenten ins Englische und Hebräische.

Potenziale – Was können wir zukünftig tun?

Auch wenn leider keine vergleichbaren Daten zu vorherigen Dauerausstellungen im Haus vorliegen, sind die Ergebnisse doch wertvolle Indikatoren zur Nutzung, Zufriedenheit und für Optimierungspotenziale. 

Und auch wenn die mit den skizzierten Methoden erhobenen Daten Unschärfen durch soziale Erwünschtheit (also eine Antworttendenz oder -verzerrung, im Englischen response bias) bzw. Limitierungen des beobachtbaren Verhaltens unterliegen (so zum Beispiel: Hat die Person ein Exponat oder den kommentierenden Text dazu angeschaut?), können durch qualitative Methoden wie Fokusgruppen zu einzelnen Aspekten tiefergehende Einblicke in die Rezeption und den Impact gewonnen werden.

Grundsätzlich erscheint das Feld der Besucher*innen-Forschung für die Zukunft äußerst gewinnbringend, weil Themen und Aspekte identifiziert werden können, die für noch zu konzipierende Angebote Berücksichtigung finden könnten. Das gilt nicht nur für fehlende Inhalte, sondern auch für eine sinnvolle Redundanz, weil Themen zwar in der Dauerausstellung aufgerufen werden, aber aufgrund der Positionierung innerhalb der Raumfolge, des Ausstellungsdesigns oder wegen Überfüllung kaum von Individualbesuchenden rezipiert werden. Auch die Nutzung von Anwendungen der Künstlichen Intelligenz (KI-tools) zur Analyse von großen Textmengen, wie sie unter anderem im digitalen Gästebuch in verschiedensten Sprachen anfallen (aktuell über 45.000 Zeilen), verspricht eine effiziente Hilfe werden zu können, sodass im Zusammenschluss verschiedenster Methoden noch zuverlässigere Aussagen zur Publikumszusammensetzung und kulturellen Teilhabe, zum Rezeptionsverhalten sowie Motivationen, Relevanzen und Barrieren getroffen werden können.



Autor:

David Zolldan

Abteilung Kommunikation und Öffentlichkeit / Curator of Outreach

(030) 2179986-41

E-Mail schreiben

Heiner Treinen: Was sucht der Besucher im Museum? Massenmediale Aspekte des Museumswesens, in: Gottfried Fliedl (Hg.): Das Museum als soziales Gedächtnis? Kritische Beiträge zu Museumswissenschaft und Museumspädagogik. Klagenfurt 1988.