Zum 50. Todestag von Joseph Wulf

“Joseph Wulf war für mich aber nicht nur eine Verbindung zwischen meinen Arbeitsschwerpunkten in Israel und Deutschland, er war für mich auch zentral, weil er mich an meine eigenen Großeltern erinnert hat.” Unsere Direktorin Deborah Hartmann eröffnet am 8. Oktober 2024 die Tagung, die an Leben und Werk von Joseph Wulf erinnert, und setzt sich mit dem Holocausthistoriker und -dokumentaristen in Bezug.

© Ursula Böhme
Joseph Wulf in seiner Wohnung in Berlin-Charlottenburg, undatiert (1950er oder 1960er Jahre); über seinem Schreibtisch die in Hebräisch verfasste Mahnung „Erinnere Dich!!! 6 000 000“.

 

Ich freue mich, dass wir heute so zahlreich zusammengekommen sind, um unsere Tagung anlässlich des 50. Todestages von Joseph Wulf zu eröffnen.

Als Aurelia Kalisky, Nicolas Berg und ich vor längerer Zeit über das Programm dieser Konferenz sprachen, haben wir uns darüber verständigt, dass unser Anspruch kein ausschließlich akademischer ist, und wir zu Beginn auch etwas darüber sagen möchten, weshalb das Werk, aber auch der Mensch Joseph Wulf für uns jeweils von Bedeutung ist. Das mag ein ungewöhnlicher Einstieg sein, aber wenn wir unsere pädagogischen Ansätze, wenn wir das, wofür dieser Ort steht, ernst nehmen, dann geht es immer auch darum, wie wir uns zur Geschichte, aber auch zur Gegenwart in Beziehung setzen. 

Ich habe Joseph Wulf, der bis heute nicht ins Hebräische übersetzt ist und in der israelischen Gedenk- und Erinnerungskultur eine eher marginale Rolle spielt, zum ersten Mal 2013 wahrgenommen. Ich war zu diesem Zeitpunkt in der pädagogischen Abteilung Yad Vashems für die Ausgabe unsere deutschsprachigen Newsletters zuständig und habe eine Ausgabe unter dem Titel „Leben nach dem Überleben“ gestaltet, in der Klaus Kempters Biographie „Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland“ vorgestellt wurde. Mich hat diese Biografie damals schon fasziniert, gerade auch weil wir in Yad Vashem bemüht waren, unseren Besucher*innen ein gewisses Spannungsverhältnis zu verdeutlichen, das mit dem Ereignis des Holocaust inhärent verbunden ist: nämlich das Spannungsverhältnis zwischen universalen Bedeutungen (des Holocaust) und partikularen Erfahrungen (der Betroffenen).

Als ich im Dezember 2020 meine Tätigkeit hier am Wannsee begann, war eine meiner ersten Aufgaben zusammen mit meinem Kollegen Matthias Haß einen Beitrag für eine Sonderausgabe der Jüdischen Allgemeinen zu 1.700 Jahre jüdisches Leben zu schreiben. 

Ich kannte diesen Ort hier noch gar nicht so richtig und war etwas überfordert damit, einen entsprechenden Zugang zu finden, der dem Kernthema dieser Gedenkstätte gerecht wird, aber auch einen Bezug zum Themenheft der Jüdischen Allgemeinen herstellte. Es war dann Joseph Wulf, über den ich einen Zugang zu diesem doch sperrigen Haus der Wannsee-Konferenz gefunden habe und der für mich eine Art Brücke zwischen Israel und Yad Vashem und Berlin geworden ist. Ich weiß, dass dieser Artikel bei manchen Kolleg*innen für Irritation gesorgt hat und durchaus auch Kritik hervorgerufen hat, weil ich darin das Motiv einer jüdischen Gegengeschichtsschreibung hervorhebe, die meiner Ansicht nach auch für Wulf handlungsleitend gewesen ist. Es ist darum vielleicht auch kein Zufall, dass es gerade ein jüdischer Überlebender gewesen ist, der den Anstoß dazu gab, sich in der Villa am Wannsee, einem Täterort, mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgeerscheinungen zu befassen. Für mich persönlich, waren die Reaktionen auf diesen Artikel besonders bedeutsam, weil sie im Wesentlichen den Anstoß für viele Gespräche und Überlegungen darüber gaben, was das eigentlich für ein Ort ist, wie er wahrgenommen wird und wie wir ihn gerne weiter gestalten wollen.

© Mathias Voelzke
Deborah Hartmann, Direktorin des Hauses der Wannsee-Konferenz, spricht zur Eröffnung der Joseph-Wulf-Tagung, 8.10.24.

Joseph Wulf war für mich aber nicht nur eine Verbindung zwischen meinen Arbeitsschwerpunkten in Israel und Deutschland, er war für mich auch zentral, weil er mich an meine eigenen Großeltern erinnert hat. Zum Beispiel an meinen Großvater Siegfried Diamant, der als 16-jähriger 1939 nach Palästina flieht, Mitte der 50er Jahre nach Wien zurückkehrt und dann bis zu seinem Tod versucht hat, diese postnationalsozialistische österreichische Gesellschaft über das Geschehene aufzuklären. Dieses Engagement, diese Energie, beim gleichzeitigen Kampf um die existentielle Absicherung seiner Familie und der Tilgung von Geldschulden ist mir unbegreiflich. Was von den Geschichten und Erinnerungen bleibt, was in den Generationen meiner Familie weitergegeben wird, hat meine Mutter in einem Gespräch vor kurzem so zusammengefasst: „Wir waren immer was anderes, wir waren nie in dem Schema drinnen.“

Nicht drinnen zu sein, hin und hergerissen zu sein, so empfinde auch ich heute, gerade nach den Ereignissen des 7. Oktobers. Gleichzeitig geht von Wulf, wie auch von meinem Großvater eine Stärke, eine Kraft, ein Antrieb aus, an dem wir uns vielleicht auch ein Stück weit orientieren können, selbst im Wissen darum, dass unsere Anstrengungen – wenn man ganz ehrlich mit sich sein möchte – vielleicht zu nichts führen werden. 

Wulf hat diese Kämpfe geführt und er war dabei nie „in dem Schema drinnen“. In seinem Bestreben, die deutsche Nachkriegsgesellschaft mit den allzu gern verdrängten, schnell und fingerfertig historisierten oder als überwunden behaupteten NS-Verbrechen und ihrer Gegenwart zu konfrontieren, hielt sich Wulf nicht an die vorgegebenen Rollen und Zuständigkeiten. Er war Historiker und Aktivist, Intellektueller und Pädagoge, Kulturmensch und Störenfried. Er war Jude im Land der Täter, und er machte es sich zur Aufgabe denjenigen eine Stimme zu geben, die das Dritte Reich und seine Diener zum Verstummen gebracht hatten. Er sah daher die Villa am Wannsee auch als „seinen“ Ort, als ein „extraterritoriales“ Terrain, zwar in Berlin gelegen, aber so Heinz Galinski, damals Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlins und Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland 1992 in seiner Eröffnungsrede, als keine lokale oder gar kommunale Angelegenheit.

Die Person Joseph Wulf und sein Wirken sind eng mit diesem Ort verbunden. Der Grund dafür liegt in der Besprechung, die hier am 20. Januar 1942 auf Einladung des Leiters des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich stattfand. Diese als Wannsee-Konferenz bekannt gewordene Besprechung betrifft Wulf, den Widerstandskämpfer, Häftling in Auschwitz, Überlebenden und Historiker der Shoah auf zweifache Weise. Hier an dieser Stelle wurden sein Tod und der Tod von Millionen europäischen Jüdinnen und Juden geplant.

Zum anderen wurde die Wannsee-Konferenz zum Symbol des administrativ umgesetzten „Verwaltungsmassenmordes“, der Wulf dazu herausforderte, die Dokumente der Beteiligung der deutschen Gesellschaft, ihrer Beamten, Kulturschaffenden und Intellektuellen zusammenzutragen und zu dokumentieren. Sarkastisch schrieb er einmal: 

“Jene Diener des Dritten Reichs scheinen begeisterte Briefeschreiber zu sein. […] Nicht nur die Anzahl der Briefe übersteigt alles Vorstellbare, sondern sie sind auch oft sehr dick, denn sie enthalten manchmal ganze Leitzordner mit eidesstattlichen Versicherungen im Original oder Fotokopie […]. Nach gewissenhafter wissenschaftlicher Analyse muß man an Hand so einwandfreien Beweismaterials […] feststellen, daß a) die Beamten des Dritten Reiches mehr Juden retteten, als umgekommen sind; b) ein erheblicher Prozentsatz dieser Beamten bei Hitler nur in Amt und Würden blieb, um so die Möglichkeit zu haben, mehr Juden das Leben zu retten.”

Joseph Wulf

Hier, in diesem „Haus der Endlösung“, wie Wulf es selbst nannte, sollten die hinter eidesstattlichen Erklärungen verschwindenden Tatsachen der deutschen Verbrechen dokumentiert werden. Wulf hatte damit, in den Worten Galinskis, „den eigentlichen Anstoß dazu gegeben […], das Haus des Verbrechens in ein Haus der Aufklärung und der Vorbeugung zu verwandeln.“ Das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Zwar ging es Wulf zeitlebens um die Dokumentation der NS-Verbrechen, aber dies diente nicht dem Zweck einer selbstgenügsamen Geschichtswissenschaft, sondern dem, was wir heute Vermittlung nennen würden. Das betont Wulf auch in einem Brief an die 1933 aus Deutschland vertriebene Hannah Arendt, in dem er ihr von einer neuen Broschürenreihe berichtet, die als „gut fundierte, leicht verständliche aber sehr konkrete Abhandlung“ den Zweck erfüllen solle, „zur Erwachsenen- und überhaupt politischen Bildung zu dienen“.

Der Gründungsdirektor der Gedenk- und Bildungsstätte und Weggefährte Wulfs, Gerhard Schoenberner, hat dies im Hinblick auf das Haus am Wannsee einmal sehr schön auf den Punkt gebracht: 

“Dort, wo die Mörder ihre Pläne besprachen, soll der Ermordeten gedacht, soll ihre Stimme hörbar werden. An diesem Ort, wo die NS-Diktatur den Tod von Millionen vorbereitete, soll die Verantwortung des Bürgers in der Demokratie gelehrt […], soll für eine bessere Zukunft gearbeitet werden.”

Gerhard Schoenberner

Diese Forderung bleibt auch heute noch aktuell. Für diese, oft unangenehme und schmerzliche Arbeit sind aber auch jene Stimmen unterverzichtbar, die, so Galiniski über Wulf, „mit einer beispiellosen Beharrlichkeit“ die Ruhe und Selbstbezogenheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft und ihrer ritualisierten Erinnerungskultur störten.


Autorin:

Deborah Hartmann

Direktorin und Leiterin der Abteilung Kommunikation und Öffentlichkeit

(030) 2179986-00

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